
Faszientraining: Hype oder hilfreich?
Neulich fragte mich eine Kollegin, ob ich Faszientraining mache. Sie habe viel Gutes darüber gehört. „Selbstverständlich“, antwortete ich und musste schmunzeln. „Und das sogar täglich.“ Ich spürte ihren skeptischen Blick und ergänzte: „Wenn ich morgens aufstehe oder nach einer langen Autofahrt mich strecke und dehne: das tut meinen Faszien gut. Auch wenn ich Sport mache, trainiere ich nicht nur meine Muskeln oder mein Herz-Kreislaufsystem, sondern auch mein Bindegewebe.“ „Und was bringt mir dann ein Faszienkurs?“
Das kleine Faszien 1 mal 1
Faszien sind überall in unserem Körper. Wie ein elastisches Netz durchzieht ein Geflecht aus weißen, fast durchsichtigen Fasern uns vom Kopf bis zur Sohle. Es umhüllt jeden Muskel, jedes Organ. Was die Medizin bislang unter dem sperrigen Begriff Bindegewebsstrukturen verstand, macht heute unter dem Label „Faszien“ Karriere. Lange Zeit schenkte die Forschung dem Bindegewebe wenig Beachtung und es blieb weitgehend unerforscht. Das hat sich in den letzten zehn Jahren geändert. Gleich an mehreren Universitäten weltweit haben sich Forscher damit befasst, was in der Faszie steckt. Kollagen, Wasser, Zucker und Eiweiße – so liest sich die Rezeptur. Ob Bindegewebe, Sehne, Kapsel oder intramuskuläres Gewebe: mal ist das Netz straffer, mal lockerer geknüpft, mal enthält es mehr oder weniger Flüssigkeit.
Was so unspektakulär klingt, ist für dich unverzichtbar. Das feinmaschige Ganzkörpernetzwerk gibt Muskeln, Knochen und Organen Halt und Festigkeit und schützt sie vor Beschädigungen. Dabei ist die Faszie extrem flexibel und anpassungsfähig. Und sie ein Tausendsassa: Faszien übertragen die Kraft der Muskulatur auf den Knochen, sind wichtig für den lokalen Stoffwechsel, dienen als Fett- und Wasserspeicher und spielen eine zentrale Rolle für das Immunsystem. Zudem ist die Faszie mit zahlreichen Sinnesrezeptoren und sensiblen Nerven durchzogen. Damit gilt sie als unser wichtigstes Sinnesorgan zur Eigenwahrnehmung. Es informiert über Position und Aktivitätszustand von Gelenken, Muskeln und Sehnen, so die Faszienforschung.
Faszien müssen trainiert werden, damit sie elastisch bleiben
Damit Faszien funktionsfähig und geschmeidig bleiben, müssen wir sie genauso beweglich halten wie unsere Muskeln oder das Herz- und Kreislaufsystem. Denn wer sich nicht genug oder sehr einseitig bewegt, riskiert, dass die Faszien-Schichten verkleben oder verdicken. Aber auch dauerhafter Stress oder Überlastung durch Leistungssport können dazu führen, dass Faszien sich zusammenziehen. Die Beweglichkeit und Belastbarkeit der Strukturen nimmt ab. Außerdem kann ein Verkleben zu Schmerzen führen – von Gelenkschmerzen über Nacken-, Schulter-, Rücken- oder Bauchschmerzen bis hin zu undefinierbaren Schmerzen.
Viele Sportler nutzen Faszientraining zur aktiven Regeneration. Bewegung und Selbstmassage sollen Muskelverspannungen und Verklebungen im Bindegewebe lösen, die Durchblutung steigern und so Muskeln und Bindegewebe elastischer und widerstandfähig gegen Belastung machen. Der Vorteil sei eine kürzere Regenerationszeit.
Wirkung der Black Roll wissenschaftlich nicht belegt
Doch nicht nur Hummels, Götze und Co. setzen auf Selbstmassage mit der Black-Roll, um für das nächste Training schneller fit zu werden. Unzählige Freizeitsportler, Neueinsteiger und Schmerzgeplagte haben die Rollenmassage schon ausprobiert. Auch du? Mit der kleinen Schaumstoffrolle langsam und gezielt mehrfach über verschiedene Muskelgruppen zu rollen, bis sich eine spürbare Entspannung einstellt, das klingt kinderleicht.
Doch wer die „Wunderpille für Verspannungen und Schmerzen“ einmal ausprobiert hat, weiß, dass es gar nicht so einfach ist, den richtigen Effekt zu erzielen. Zu schnell, zu aggressiv, zu lange, in den Schmerz gerollt und dann noch eine falsche Köperhaltung und der Atem gestockt: die Fehlerquellen sind zahlreich, der Nutzen fraglich. In der Tat: Bislang gibt es für den Trainingseffekt der Rollenmassage keine wissenschaftlichen Belege. Die Selbstmassage mit der Black Roll erreicht in der Regel nur oberflächliche Strukturen. Es gibt keinen Nachweis, dass sich Faszien-Verklebung nachhaltig lösen oder sich Leistungsfähigkeit und Muskelkraft dadurch steigern ließen.
Sport ist immer auch Faszien-Workout
Federnde und schwingende Bewegungen kombiniert mit unterschiedlichen Dehnungen: das bietet ein Faszien-Work-out. Doch all das ist nichts wirklich Neues. Hampelmänner, Sprünge von rechts nach links, das Dehnen von Rücken und Beinen lassen schnell Erinnerungen an die gute alte Sportstunde wach werden. Doch wenn dich „elastic jumps“ oder Übungen wie „cat body“ und „flying sword“ motivieren, Sport zu machen, dann lass dich nicht abhalten.
Denn du musst wissen: Faszien werden bei jeder noch so kleinen Bewegung mittrainiert. Wer bereits regelmäßig etwas für seine Ausdauer, Muskulatur und Koordination tut, hat automatisch ein Faszien-Work-out inklusive. Denn jede Trainingseinheit beinhaltet immer auch Dehnübungen und federnde Bewegungen. Sportwissenschaftler empfehlen daher ein Ganzkörpertraing. Insofern kann Faszien-Workout eher eine Ergänzung des Trainings darstellen.
Faszienforschung in vollem Gange
Die Faszienforschung steht erst am Anfang. Zwar kennen Ärzte seit über hundert Jahren diese Strukturen, doch können sie erst seit Kurzem tiefer in die Faserschichten schauen. Durch die sogenannte Elastografie, ein neues, hochauflösendes Ultraschallverfahren, können sie beobachten, wie die Faszien aneinander entlanggleiten oder kleben bleiben. Aber wie so oft sind Dinge, die auf einmal sichtbargemacht werden können, noch lange nicht erklärbar.
Schon heute bietet die weltweite Faszienforschung mögliche Erklärungsmodelle für die Wirksamkeit von Rolfing, Osteopathie, Yoga oder auch Akupunktur. Doch ist nach wie vor unklar, ob es sinnvoll oder in irgendeiner Form wirksam ist, Faszien gezielt zu bearbeiten. Es bleibt spannend.
Mein Fazit: Mache lieber Faszientraining als gar keinen Sport. Aber bitte finde für dich eine gute Balance zwischen Kräftigungs-, Koordinations- und Ausdauerübungen. Wahrscheinlich ist auch dein Zeiteinsatz für Sport begrenzt. Daher sollte dein Training Spaß machen und effektiv sein.
Über Dr. Max Wunderlich
Dr. Max Wunderlich liebt Fitnesssport und wissenschaftliche Beweise. Der diplomierte Sportwissenschaftler und Doktor für Medizinwissenschaften, hat für Kunden der Generali Versorgungsprogramme für die großen Volkskrankheiten entwickelt – und die Wirksamkeit seiner vernetzten, digitalen Herangehensweise zusammen mit Universitäten bewiesen. Mit der Studie "Praxis Dr. Internet" über das Krankheits-Suchverhalten der Deutschen bei Google war er inzwischen schon in vielen Fernsehsendungen zu Gast.
Zusammen mit einem interdisziplinären Team aus Ärzten und Wissenschaftlern bloggt er für Generali Vitality regelmäßig zu allem, was gesund hält.